Dissoziation

 

Immer gleichzeitig, aber scharf getrennt:

 

Hier die Depression, dort die nach aussen aufgeräumt Aufgeschlossene. Hier die rasende Spannung, dort die nach aussen völlig Entspannte. Hier das heulende, elende Schreiwesen, dort die unerschrocken Starke. Hier die In-den-Flashbacks-Versaufende, dort die allseits Zugewandte. Hier die bodenlose Gewissheit der eigenen Unzulänglichkeit, dort die überblickend Souveräne. Hier die emotional völlig Labile, dort die fast lückenlos Ausgeglichene. Hier die Angst, dort die zwingende Zuversicht. 

 

Und keins ist wirklicher als das andere.

 

Aber weder das eine noch das andere hat Zugriff auf das jeweils andere oder eine.

 

(Zu lesen mit allzeitiger Bereitschaft, in schallendes Gelächter auszubrechen, wobei alles sehr ernst gemeint ist.)

 

 

Jetzt

Ist es so sicher, dass es immer ein Vorher gibt. Dem dann, danach, ein Nachher folgt. Das Jetzt nur immer dazwischengefügt. Leicht und praktisch aus Versehen.

Gesichter

Gesichter verschwinden. hinter Masken. was bleibt. ist die Geschwindigkeit beim Gehen. (Pandemie)

Nacht

es ist Nacht. es regnet. es hat geregnet. nun regnet es nicht mehr. und es ist immer noch Nacht.

auf Händen gehen

Sie scheint in einer eigenartigen tiefen Müdigkeit festzustecken, aber das wird wohl, wie so oft, plötzlich wieder anders sein, und sie wird in grossen Sprüngen durch die Landschaft springen, um Äpfel zu pflücken von unsichtbaren Bäumen. Oder sie wird die Weiten der Möglichkeiten durchpflügen, um einen Satz zu finden, der ihr das Leben erklärt. Vielleicht auch wird sich die Frage "Wer bin ich?" zu ihr neigen mit freundlichen Augen, ein Zwinkern nicht verkneifen können und sie fröhlich übermütig an der Hand nehmen, um munter weiter dem Unwägbaren in die Arme zu rennen. Oder der Regen draussen wird ihr sein Rauschen offenbaren und sie wird plötzlich die Melodien ferner Utopien hören. Oder sie wird auf Händen gehen können, um mit den Füssen zu jauchzen. Oder sie wird das Elend der Welt sehen und nicht gleich zerspringen vor Scham und Schuld. Oder sie wird den Begriff Schmerz neu buchstabieren und aus den neu gewonnenen Buchstaben etwas Neues zimmern, das leuchtet in warmen Farben und in tiefster Nacht.

sprachliche Zeichen

Als ob sie eindeutig seien in ihrem Verweis worauf? Ihr Gebrauch nicht vor allem unüberschaubar. Ihr Verstehen eher Spiegelung eigener Sedimente als ein Fortführen in anderes. Ob jenseits festgelegter Konjunktionen auch Weiteres möglich? Wie das Spiel hintertreiben?

 

sprachlos

Sprachlos ist, wenn sich die Wörter nach innen fressen. Wenn sie sich auf der Zunge stapeln und schliesslich in den Rachen kippen. Wenn man sich an den Konjunktionen verschluckt und zwischen Würgen und Husten nur Unzusammenhängendes hervorbringt. Wenn die Wörter, die man ahnt, von denen man denkt, dass es die eigenen seien, sich im Kopf verlieren und durchs Gedärme diffundieren – still. Sprachlos ist, wenn die Zwischenräume der Schreie sich den Silben widersetzen und fort und fort den Raum ins Innere verdichten. Sprachlos ist, wenn die tastende Zunge die Laute verfehlt und starr und schwer liegen bleibt. Wenn die suchenden Augen im Schneegestöber nur Schatten finden und die Leere sich konturlos nach innen frisst. Wenn der Hohn an der Peripherie die hinausgestemmten Silben gierig verschlingt und nichts gegen den leeren Blick des andern getan werden kann. Wenn Wörter plötzlich den Mund verlassen und man ihnen verwundert zuhört und sich fragt, was sie wohl bedeuten. 

 

sprachlos. sagt sie. 

den Imperativ des Nützlichseins mit weit aufgerissenen Augen anschauen. Als ob es etwas zu sehen gäbe 

 

nicht durch den Lärm kommen. den eigenen. 

es scheint ihr dermassen unmöglich: all die Gleichzeitigkeit auszuhalten. das Eigene als anwesend zu begreifen und gleichzeitig eine unfassbare Menge an anderem, zum Beispiel: ein zerschossenes, ausgeweidetes Haus, wo einmal etwas war, aber nun nicht mehr, und wo sind die Bewohner? was ist mit ihnen? (Sie liest "Internat" von Serhij Zhadan) Oder: das Kind, das, einen Geigenkoffer auf dem Rücken tragend, schnurstracks Richtung Schule geht. (Sie schaut aus dem Fenster) Oder: der junge Mann, der unter riesigen Kopfhörern versunken im Tram sitzt, die Augen geschlossen. (Sie sitzt auch dort) Oder der ältere Mann, der etwas verlottert auf dem Trottoir schwankt und leise vor sich hin spricht. (Sie ist mit dem Rad an ihm vorbeigefahren) Oder: die Nachbarin, die vor ihr die Treppen hinuntertrabt, die schmutzige Wäsche unterm Arm. das Licht in manchen Fenstern, wenn es dunkel wird. die wehenden Schäle. still wartenden Füsse.

 

 

Tag zwei

Sie schleicht sich verstohlen zum Velo und dreht eine Runde durch anliegende Gebiete. Der Abstand zum Nächsten ist gewährt, sie wird nichts anfassen, nur den Lenker ihres Rads hält sie fest. 

Es ist Stosszeit, sechs Uhr abends, am Tag zwei der ausserordentlichen Lage, wo alle Beizen, Bars, Kinos, die meisten Läden, Buchläden, Museen, Theater, Bibliotheken, Universitäten, Schulen geschlossen haben. Fertig. Menschen sollen Abstand nehmen zueinander, Distanz schaffen, damit das Virus nicht von einem Rachen zum nächsten tröpfchenweise sich durch die Luft katapultiere. Einhalt muss geboten werden. Jetzt. So heisst es und so stimmt es natürlich auch. Eine nie gesehene Einigkeit herrscht allenthalben. Wer sozial ist, der zeigt das nun, indem sie zu Hause bleibt.

Tag vier

Sie sitzt zu Hause und fragt sich, wie diese Isolation nun zu nutzen sei. Sie muss sie doch irgendwie nutzen. Schreiben, kommentieren, kommunizieren, lesen, sich informieren, sich nützlich machen. Sich um Himmels willen irgendwie nützlich machen. Ahasoso. In ihrem Kopf grinst es hämisch und man fragt sich: Nützlich? Oder die Angst wovor? Diese ständige Verzettelung in der Abgeschiedenheit ist enorm.

Tag sechs

Was wenn ein Wort. Aus der Tiefe gestemmt, hervorgeangelt aus dem Irgendwo. Geschleust durch unwirtliches Gefilde, vorbeigezerrt an lauter Geröll, das da reihum lagert, keine weiss Genaueres. Hindurch durch garstiges Wetter, giftigen Wind, der in die Silben gefahren, an den Buchstaben gerüttelt. Die ohnehin schon prekär zusammengefügt nun drohen auseinanderzufallen und oben und unten bös zerfleddert, die Serifen futsch. Und doch steht es nun da. Und wartet. Ob da noch eins kommt.

Sie sitzt am Tisch und liest Zahlen. Sie werden immer grösser. Was ist da nur über uns hereingebrochen, denkt sie und: ich sah einen Menschen vorbeigehen. Es ist noch nicht lange her.

Tag elf

Und die ganze Zeit diese Diskrepanz. In alle Richtungen. Die eine Präsenz und die andere. Unmöglich zu vereinen. Zum Beispiel die Präsenz, also die Gegenwärtigkeit, dieses Gefühl des Jetztgeschiehtkrasses oder Wirdjetztwasallesanders (nicht dass man nicht Freude am Spektakel hätte, aber dieser nonchalante Ton ist nun also wirklich fehl am Platz), dieses von so einem unbestimmten, doch ultimativen Pathos aufgeladene Wissen um unmittelbar (quasi vor der Nase, aber wohin schaut sie, meine Nase?) geschehende Geschichte (die man doch überhaupt und bei weitem nicht fassen kann, aber die Ahnung genügt für die Erschütterung vollkommen), also diese vermittelte, also mediale Präsenz der gerade global (weltumspannend, wohin man auch blickt, Südafrika, Island, Buenos Aires, von den Lofoten weiss ich es jetzt nicht, China, Paris, Neapel, New York und so weiter) sich abspielenden coronalen Krise (zum Glück, das Wort Krise zumindest musste man nicht neu erfinden). Gut, also die Diskrepanz zwischen dieser medialen Krisen-Präsenz und gleichzeitig die analoge Präsenz des eigenen Selbst, akkurat versorgt am Pult in den vier Wänden des eigenen Zimmers, bemüht auch dem Teil Office im Wort Homeoffice gerecht zu werden.

Nicht dass diese Diskrepanz grundsätzlich etwas Neues gewesen wäre. Schon immer war sie sehr präsent. Die üblichen lokalen und weltweiten Krisen genügten für gewöhnlich vollkommen, sie virulent zu machen, also ständig lebendig handlungs- und deutungshintertreibend ihren Kopf verrückten.

 

Und ob man nicht das Social Distancing eventuell auch ein bisschen digital betreiben könnte?, fragt sie sich. Aber soll sie doch selbst schauen.

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Wenn also das Private sich immer mehr auflöst, weil die digitalen Spuren desselben eine potenziell jederzeit zu konstituierende Öffentlichkeit bilden, die zwar konzeptlos, aber nicht algorithmenlos sich all diejenigen einverleibt, die da sind, ohne sich den Null-Einsen mit Absicht und Konzept entgegenzustemmen, dann sagt uns das per se ja eigentlich noch nicht viel darüber, wie es weitergehen soll. Zum Beispiel.

 

Also unter anderem die Fragen: Was ist privat? Gibt es das schon seit immer? Was ist öffentlich? Wer bin ich? Wo bin ich am meisten? Muss ich sein? Wenn ja, gibt es ein Wie?

 

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Kontrolle. Also Macht. Ein Ewigkeitsthema auf dieser Welt. (Entweder Welt oder Ewigkeit. Würde man denken.) Und was wären dann die Fragen dazu? Wofür Macht? Weshalb?

 

Wenn die Null-Einsen mich zunehmend vermessen, was geschieht dann mit mir?

 

 

 

schwarz

glüht

 

das Zerren des Abgrunds

 

 

 

 

Vogelfrei

Das Eigene steht vogelfrei. In der Wüste. Hoch oben kreisen die Krähen. Man sieht ihm zu. Von ferne. Und kann nicht helfen. Denn schwer hängen die Arme. Fest stehen die Füsse. Sie wurzeln nicht. Nein. Aber sie können nicht gehen. Zu schwarz ist der Himmel. Von Krähen. Die Augen suchen das Vogelfreie. Doch sehen nichts. Zum Frass steht es bereit. Bald wird sich der Himmel senken. Man wird zusehen. Wie die Vögel kommen. Und sich einverleiben, was sich so freigiebig darbietet. Weshalb?