Wenn die Schwalbe fliegt und der Boden sich öffnet, wenn der Wind still und die Halme zittern
wenn der Mond steht und die Leere flutet
wenn der Tag sich neigt und der Morgen nicht kommt
Wie sich auskennen, sich zurechtfinden, den Kopf nicht verlieren?
Nur das Absurde hält stand, einer ernsthaften Überprüfung des Gegenwärtigen. Nur die fliegende Leichtigkeit des Unernsts, die tiefer geht, als es dem Ernst je in den Sinn kommen könnte, ja die diesen im Innersten zusammenhält, vermag sich durch die bodenlose Schwere jedes einzelnen Tages, nicht zu denken an die Nächte, zu stemmen.
Nur die ins Auge blitzenden fernen Leuchtfeuer des fliegenden Lachens vermögen das Unhaltbare des allenthalben mit Posaunen und Trompeten postulierten Ernstes aufzufangen. Damit es im Begriff des Absurden eine Wohnung finde, wo es doch nichts zu bewohnen gibt. Weil ja gerade das Entsorgen von Vorgefundenem in Begrifflichkeiten ein Geschäft des emsigen Posaunens ist. Und das schallende Lachen, das die bodenlosen Widersprüche und grotesken Untiefen des scheinheiligen Ernstes immer nur aufdecken kann, aber nicht benennen – denn kaum will es sie zur Sprache bringen, bleibt es im Hals stecken, tappt in dieselbe Falle des immer eilenden Ernstes –, muss, da es sich doch nun einmal dem Ernst nicht unterwerfen möchte, verstummen. Das ist ein Problem.
Das Erkennen des Zwischenraums macht es mitunter möglich zu entkommen. Wobei die ständigen Verschiebungen aufgrund unwägbarer Gegenwärtigkeiten es nicht immer leicht machen, besagte Lücke auch wirklich zu erwischen. Das ist ein Risiko. Aber es gilt, den Sog des scheinheiligen Ernsts mit dröhnendem Lachen abzuspeisen, es bedenkenlos in die schwarzdunkle Tiefe des Nichts zu werfen. Immerzu. Und ernsthaft dem Unernst das Feld zu überlassen. Auf dass er seine lichten Bahnen durch die Silben ziehe und sie aus den Fugen hebe, dort, wo es ihn gelüstet.
Wie nicht immerfort über die eigenen und andere Silben stolpern? Wie überhaupt unterscheiden? Wie sich nicht die Nase wund- oder die Zähne ausschlagen, jeden Morgen neu? Wie sich mitten im freien Fall auffangen und gar auf den Füssen landen? Wie dem Zerren des Abgrunds widerstehen? Oder der grotesk immensen Verzettelung, die ständig sturmtiefartig am geradeso Zusammengehaltenen rüttelt? Wie die plötzliche Stille aushalten? In der sich ohrenbetäubend Kleinstbruchstücke irgendwelcher Satzfragmente am inneren Auge vorbeiwinden? Wie nicht in all diese das eigene Gehen auf den Strassen kreuzenden Gesichter diffundieren? Sich auflösen in diese so gegenwärtigen Menschen? Was dem überall hervorspringenden Elend entgegenhalten? Wie um alles in der Welt wissen, wer man sei? Oder inwiefern? Und was man denn verloren habe, hier. Auf ebendieser Welt. Dem einzig möglichen Ort, offenbar. Wie sich zurechtfinden. Ohne den Kopf zu verlieren. Oder das Herz. Wobei man gerade dessen Pathos ein wenig scheut. Und eigentlich ja ohnehin einfach diesen Ort meint. Utopie? Wo ein Ich stattfinde. Eines, irgendeines. Wovon aus weiterzugehen sei.
Wenn es ums Verrecken sein muss, kann alles Zeichen sein. Nichts ist davor gefeit, gedeutet zu werden. Man kann das Deuten aufgrund von der Beziehung des Gedeuteten zum Bedeutenden bzw. Objekt nach Peirce in drei Kategorien einteilen. Aufgrund von Ähnlichkeit in Bezug auf bestimmte relevante Merkmale (Ikon); aufgrund einer Kausalität (Index); aufgrund einer Konvention (Symbol). Das sprachliche Zeichen ist geprägt durch eine Beziehung der Konvention zwischen seiner materiellen Seite (Laut-, Schrift- oder Tastbild) und seiner immateriellen, des Begriffs (vgl. Saussure). Nun da der Begriff eine Sache der Vorstellung ist und diese sich im Innern eines Menschen heranbildet, anreichert, diffundiert, mutiert, perforiert auf völlig undurchschaubare Weise, und als ob damit nicht genug, der sprachliche Austausch meist in Form einer Aneinanderreihung (willkürlich, stringent?) dieser einzelnen Zeichen besteht, also diese summiert und miteinander in Beziehung setzt (überschaubar?) und als Text und Subtext und Zwischenzeilentext ein gigantisches Konglomerat entstehen lässt, also nun da diese immaterielle Seite der sprachlichen Zeichen in ihrem unbändig beständigen Drang zur Verselbständigung funktioniert, da ist es doch immerhin verwunderlich, dass man sich mitunter gar des (gegenseitigen!) Deutens mächtig meint.
Es gibt Zeichen. Wie sie unterscheiden von Nichtzeichen? Es gibt Wörter. Wie sie unterscheiden von Unwörtern? Es gibt Aussagen. Wie soll ich verdammt merken, wann es eine Frage gewesen wäre? Oder gar Antwort. Auf Ungefragtes. Oder ob ich überhaupt auch. Etwas sagen soll. Und was.
Die Materialisierung eines Wortes, ob durch Schall- oder Lichtwellen, generiert ein neues Objekt in der Welt. Bisweilen unerhört flüchtig zwar. Sein Lautwerden hat vielleicht das andere Ohr kaum gestreift, geschweige denn das dahinterliegende Bewusstsein. Auch die ziellos durch den Orbit treibenden Nullen und Einsen sind womöglich vor allem dies: flüchtig.
Und doch sei hingewiesen auf die Heimtücke und die Hinterlist gerade jener Objekte sprachlicher Natur, welche gemeinhin als allzu nichtig erscheinen. Gerade sie schleichen und nisten sich ein und werden plötzlich als Einbaumobiliar erkannt, als ob sie zum Gedärm gehörten. Mobiliar, das nicht ohne blutiges Schwitzen oder anderweitige Gewaltakte wieder rausgerissen werden kann. Ein Wort, sobald es in den freien Fall der Materialität entlassen, ist nichts als ein Objekt. Es ist verfügbar. Jeder darf sich seiner bedienen. Darf es drehen und wenden, wie es beliebt. Diese frei fallenden Objekte sind in ständiger Mutation begriffen. Und niemand ist davor gefeit, von ihnen erschlagen zu werden. Bisweilen kehren sie zurück, plötzlich und unerwartet, das Gesicht zur unkenntlichen Fratze verzogen. Ein Monster.
Ein sprachliches Zeichen, und als solches in wahrnehmbare Form gegossen, kann beliebig reproduziert werden bei völlig unterschiedlichem Kontext. Dabei ist der Aufwand minim. Wenn man sich diese namenlose Anhäufung von neuen Objekten vorzustellen wagt, die tagtäglich noch verdichtet, multipliziert und potenziert wird (oder wie anders?), so bemerkt man mit Verwunderung die relative Stille mitunter. Ob man taub ist oder nur dumm? Die Frage bleibt: Wie überlebt man das? Dieses ständige Hintergangenwerden, womöglich noch (vor allem?) von den eigenen Zeichen?
Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. [...] So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
(Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil)
Die Festigkeit der Rahmen sei also keine feste Grösse. Man tritt durch eine weit offene Türe und findet sich unversehens in einem furiosen, blauäugigen, betörenden sich fort und fort erneuernden Spektakel überbordender Augenfälligkeiten. Und vor lauter bodenloser Leere stürzt man vom Sog der überwältigenden Eindeutigkeit erfasst wie von einem schwarzen Loch immer tiefer und tiefer hinein in die sogenannten Wirklichkeiten. Bisweilen geschieht das nur eine Satzlänge lang. Manchmal auch länger - sich Tag für Tag an den unwidersprochen festen Rahmen entlang durch zufällige Öffnungen zwängen. Die Füsse sorgsam übers glatte Parkett der Gegebenheiten balancieren. Im Rhythmus des Unumstösslichen weiter die Wände weiss streichen. Damit es heller sei.
Als ob sich die Gegenwart fortwährend als Geschichte in der Vergangenheit gemütlich niederliesse und man sie dort nur aufsuchen müsste, um in ihr fröhlich zu lustwandeln. Als ob das Zusammenfügen von frei Flottierendem nicht ein unerhörter Akt der Willkür und der Gier nach Sinn sei.
Was die methodische Operationalisierung der historischen Interpretation anbetrifft, so gehen von den neohermeneutischen Positionen erhebliche Modifikationen an den traditionellen Interpretationskonzepten der Geschichtswissenschaft aus. Auf jegliche Synthese und Einheitskonzeption von Geschichte wird dezidiert verzichtet.
(van Dülmen, Fischer Lexikon Geschichte)